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EMRK

«F in B» direkt gestützt auf Art. 8 EMRK

Rechtsprechung
Statusänderungen / Kantonswechsel

BGer, 2C_198/2023, Urteil vom 7. Februar 2024, franz., zur Publikation vorgesehen

Spätestens nach zehnjährigem Aufenthalt kommt auch für vorläufig aufgenommene Personen ("F-Ausweis") die Anwendung von Art. 8 EMRK (Schutz des Privatlebens) und die entsprechende Rechtsprechung des Bundesgerichtes in Betracht. Im vorliegenden Fall wird zwar die Erteilung der Aufenthaltsbewilligung wegen des Alters der Kinder von 10 und 12 Jahren (noch) verweigert. Das Bundesgericht macht jedoch auf die statusbedingten Einschränkungen der Mobilität und die Probleme bei der Lehrstellensuche aufmerksam, die bei einem Langzeitaufenthalt das Recht auf Achtung des Privatlebens von vorläufig Aufgenommenen verletzen können.
iusNet MigR 20.03.2024

Schutz des Familienlebens von vorläufig Aufgenommenen

Rechtsprechung
Familiennachzug

BVGer D-4112/2023, Urteil vom 1. November 2023

Rechtswidrig eingereiste Ehepartner von hier vorläufig Aufgenommenen erhalten keine vorläufige Aufnahme gestützt auf den asylrechtlichen Grundsatz der Einheit der Familie (Art. 44 AsylG), wenn sich das Paar erst nach der vorläufigen Aufnahme des bereits in der Schweiz anwesenheitsberechtigten Partners kennengelernt hat. Der Einbezug in die vorläufige Aufnahme muss jedoch im Rahmen von Art. 8 EMRK trotzdem geprüft werden, wenn der hier anwesende Partner wegen seiner langjährigen Anwesenheit über ein faktisch gefestigtes Anwesenheitsrecht verfügt. Die illegale Einreise zwecks Umgehung der Familiennachzugsbestimmungen stellt keinen Ausschlussgrund dar.
iusNet MigR 24.01.2024

Das Recht auf Privatleben gewinnt an Konturen – EGMR-Urteil Ghadamian gegen die Schweiz

Kommentierung
Verbleiberechte (FZA / EMRK)
Im Urteil Ghadamian gegen die Schweiz vom 9. Mai 2023 gibt der EGMR die Richtung vor, in welche sich die Schweizer Rechtsprechung zum Schutz des Privatlebens entwickeln soll. So darf weder schwere Straffälligkeit noch ein ungeregelter Aufenthalt die Behörden und Gerichte absolut daran hindern, einer ausländischen Person eine Bewilligung gestützt auf den Schutz des Privatlebens (wieder) zu erteilen. Vielmehr kann unter Umständen eine positive Verpflichtung des Staates bestehen, das Privatleben mittels Bewilligungserteilung zu schützen.
Urs Ebnöther
iusNet MigR 20.09.2023

Ghadamian gegen die Schweiz: Rentner darf trotz illegalem Aufenthalt und Straffälligkeit bleiben

Rechtsprechung
Verbleiberechte (FZA / EMRK)

EGMR, Ghadamian gegen die Schweiz, Rs. Nr. 21768/19, Urteil vom 9. Mai 2023

Der EGMR wirft dem Bundesgericht im Fall eines seit Jahrzehnten, zuletzt illegal anwesenden Iraners eine unausgewogene Interessenabwägung vor. Folgende besondere Umstände habe das Bundesgericht auf Seiten des Privatinteresses zu wenig gewichtet: extrem lange Gesamtdauer des Aufenthalts (54 Jahre zum Entscheidzeitpunkt); Privatleben, das während seines legalen Aufenthalts seit seiner Ankunft im Jahr 1969 aufgebaut wurde; ungewisses Bestehen von Beziehungen in seinem Herkunftsland Iran; keine schweren Straftaten seit 2005; unzureichende Vollzugsbemühungen der nationalen Behörden seit mehr als 20 Jahren.
iusNet MigR 20.09.2023

Schutz des Privatlebens auch ohne zehnjährigen legalen Aufenthalt möglich

Rechtsprechung
Verbleiberechte (FZA / EMRK)

BGer 2C_734/2022, Urteil vom 3. Mai 2023, franz. (zur Publikation vorgesehen)

Das Bundesgericht will mit seinem neusten Grundsatzurteil zum Schutz des Privatlebens Missverständnisse aus dem Weg räumen. Bei einem fehlenden zehnjährigen rechtmässigen Aufenthalt falle zwar die in BGE 144 I 266 neu aufgestellte Vermutung der Verwurzelung in der Schweiz weg. Die alte Rechtsprechung, die einen potentiellen Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung gestützt auf Art. 8 EMRK im Falle einer besonders erfolgreichen Integration anerkennt, bleibe jedoch in jedem Fall anwendbar.
iusNet MigR 26.07.2023

Kantonswechselanspruch eines arbeitslosen Flüchtlings direkt gestützt auf Art. 8 EMRK

Rechtsprechung
Statusänderungen / Kantonswechsel

VGer ZH, VB.2022.00464, Urteil vom 27. Oktober 2022

Flüchtlinge, die miteinander verheiratet, jedoch verschiedenen Kantonen zugewiesen sind, haben trotz Arbeitslosigkeit ein Recht auf den Kantonswechsel. Zwar erfüllen sie die Voraussetzungen nach der Bestimmung in Art. 37 Abs. 2 AIG, die grundsätzlich auch bei Flüchtlingen zur Anwendung gelangt, nicht. Sie können sich jedoch auf den Anspruch nach Art. 8 EMRK berufen. Wird einem Ehepaar mit einem Kleinkind das Zusammenleben in einer gemeinsamen Wohnung verwehrt, stellt dies einen deutlich spürbaren Eingriff in die Garantie des Familienlebens dar. Das Zusammenleben in demselben Haushalt bzw. demselben Kanton muss daher bewilligt werden.
iusNet MigR 22.03.2023

Ohne Bewilligung kein Schutz – ohne Schutz keine Bewilligung

Kommentierung
Verbleiberechte (FZA / EMRK)

Urteil des Bundesgerichtes 2C_821/2021 vom 11. November 2022

Mit dem hier kritisch beleuchteten Urteil 2C_821/2021 vom 11. November 2022 bekräftigt das Bundesgericht, dass grundsätzlich nur ein rechtmässiger Aufenthalt in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK fällt. Langjährige Aufenthaltsdauer und herausragende Integrationsleistungen ändern nichts daran, dass sich nicht auf das Recht auf Achtung des Privatlebens berufen kann, wer sich illegal in der Schweiz aufhält. Konventionsrechtliche Regularisierungen von definitiv abgewiesenen Asylsuchenden und Sans-Papiers bleiben damit weiterhin ausgeschlossen. Das Bundesgericht hat es verpasst, die mit BGE 144 I 266 eingeleitete Rechtsprechung zum Schutz des Privatlebens (Anspruch auf Bewilligungsverlängerung spätestens nach zehnjährigem Aufenthalt) weiterzuentwickeln.
Peter Bolzli
iusNet MigR 18.01.2023

Kürzere Wartefrist beim Familiennachzug durch vorläufig Aufgenommene

Rechtsprechung
Familiennachzug

BVGer F_2739/2022, Urteil vom 24. November 2022, franz.

Das Bundesverwaltungsgericht ändert seine Praxis zur dreijährigen Familiennachzugs-Wartefrist für vorläufig aufgenommene Personen. Neu können Ausländerinnen und Ausländer mit F-Ausweis ein Gesuch um Familiennachzug bereits kurz vor Ablauf von zwei Jahren seit der Anordnung der vorläufigen Aufnahme stellen. Das SEM hat ein solches Gesuch in Berücksichtigung sämtlicher Aspekte des Einzelfalles zu prüfen und gutzuheissen, sofern das Abwarten der gesetzlichen Dreijahresfrist das Recht auf Achtung des Familienlebens verletzen würde.
iusNet MigR 18.01.2023

Schutz des Privatlebens nur bei rechtmässigem Aufenthalt

Rechtsprechung
Verbleiberechte (FZA / EMRK)

BGer 2C_821/2021, Urteil vom 1. November 2022

Das Bundesgericht weitet seine jüngere Rechtsprechung zum Anspruch auf Achtung des Privatlebens (BGE 144 I 266) nicht auf rechtswidrig anwesende Personen aus. Im Falle eines langjährig anwesenden definitiv abgewiesenen Asylsuchenden wird in einem Urteil vom 1. November 2022 betont, dass sich unabhängig von den Integrationsleistungen nicht auf Art. 8 EMRK berufen könne, wer sich nicht an seine Ausreisepflichten halte und unrechtmässig in der Schweiz verbleibe. Damit bleibt abgewiesenen Asylsuchenden zwecks Legalisierung ihres Aufenthaltes weiterhin nur der Weg über ein Härtefallverfahren gemäss Art. 14 Abs. 2 AsylG, in dem ihnen kein Anspruch und keine Parteistellung zukommt.
iusNet MigR 18.01.2023