Kürzere Wartefrist beim Familiennachzug durch vorläufig Aufgenommene
Kürzere Wartefrist beim Familiennachzug durch vorläufig Aufgenommene
Kürzere Wartefrist beim Familiennachzug durch vorläufig Aufgenommene
BVGer F_2739/2022, Urteil vom 24. November 2022, franz.
Eine eritreische Staatangehörige und ihr Sohn, die in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt hatten, wurden im Oktober 2021 vom Staatssekretariat für Migration (SEM) vorläufig aufgenommen. Im März 2021 ersuchten sie um den Nachzug des eritreischen Ehemannes bzw. Vaters, der als Deserteur nach Israel geflüchtet war. Das SEM lehnte das Gesuch ab mit der Begründung, dass die dreijährige Wartefrist für den Familiennachzug gemäss Art. 85 Abs. 7 AIG noch nicht abgelaufen sei.
Die gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde nimmt das Bundesverwaltungsgericht zum Anlass für eine Praxisänderung. In seiner bisherigen Rechtsprechung hat das Gericht die ab dem Zeitpunkt der vorläufigen Aufnahme laufende dreijährige Wartefrist von Art. 85 Abs. 7 AIG relativ streng gehandhabt in der Auffassung, die Einhaltung einer solchen Frist würde nicht per se gegen die internationalen Verpflichtungen der Schweiz verstossen. Es räumte jedoch bereits früher ein, dass in jedem Einzelfall geprüft werden müsse, ob die Wartefristeinhaltung EMRK-konform ausgelegt werden könne, wobei es bestimmte Aspekte wie die Dauer des Aufenthaltes und die Bindungen an die Schweiz berücksichtigte (E. 6.4).
In Anbetracht des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) M.A. gegen Dänemark vom 9. Juli 2021 (Rs Nr. 6697/18) verpflichtet das Bundesverwaltungsgericht das SEM neu, dass – solange das AIG nicht angepasst wird – bereits sechs Monate vor Ablauf einer zweijährigen Karenzzeit nach Anordnung der vorläufigen Aufnahme eine detaillierte individuelle Prüfung vorgenommen wird. In dieser Einzelfallprüfung muss die Behörde feststellen, ob die Anwendung einer kürzeren als der gesetzlichen Dreijahresfrist für die Achtung des Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK notwendig ist. Zu berücksichtigen sind dabei alle vom EGMR genannten Faktoren, insbesondere der Grad der Integration in der Schweiz, das Vorhandensein unüberwindbarer Hindernisse für die Fortsetzung des Familienlebens im Herkunftsland oder in einem Drittstaat und das Kindeswohl (E. 6.5).