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Ohne Bewilligung kein Schutz – ohne Schutz keine Bewilligung

Ohne Bewilligung kein Schutz – ohne Schutz keine Bewilligung

Kommentierung
Verbleiberechte (FZA / EMRK)

Ohne Bewilligung kein Schutz – ohne Schutz keine Bewilligung

Urteil des Bundesgerichtes 2C_821/2021 vom 11. November 2022

(1) Mit dem Leitentscheid BGE 144 I 266 vom 8. Mai 2018 schaffte das Bundesgericht ein Verbleiberecht für langjährig in der Schweiz anwesende Ausländerinnen und Ausländer mit der Begründung, die Nichtverlängerung einer ausländerrechtlichen Bewilligung könne das Recht auf Achtung des Privatlebens gemäss Art. 8 EMRK verletzen. Spätestens nach zehn Jahren sei in der Regel von einer guten Integration auszugehen; den Betroffenen solle es deshalb ermöglicht werden, ihre hier entstandenen Beziehungen weiterhin zu pflegen. Nur besondere Gründe vermöchten die Nichtverlängerung eines Aufenthaltsrechtes zu rechtfertigen, die Zumutbarkeit der Rückkehr sei für sich allein kein Grund, das Aufenthaltsrecht zu entziehen, ebenso wenig das öffentliche Interesse an einer Steuerung der Zuwanderung.

(2) Obschon sich BGE 144 I 266 auf eine Bewilligungsverlängerung bezog, stellte sich die Frage, ob sich in diesem neu gesteckten Rahmen auch unbewilligte Aufenthalte regeln lassen würden. Die Lehre bejahte bei Vorliegen von ausserordentlichen Umständen bereits gestützt auf die frühere bundesgerichtliche Rechtsprechung eine solche völkerrechtsbezogene Legalisierungsmöglichkeit (Caroni et. al., Migrationsrecht, 5. Auflage, Bern 2022, Rn 1562; HAP Ausländerrecht-Breitenbücher/Ege, Rz 18.268). Dass das Bundesgericht einen weiteren Schritt in diese Richtung machen könnte, liess sich auch in BGE 147 I 268 vom 24. November 2020 hineinlesen: Das Bundesgericht war auf die Beschwerde einer vorläufig aufgenommenen Person, d.h. einer Ausländerin, die zwar einen rechtmässigen Status, aber keine ausländerrechtliche Bewilligung besass, eingetreten und hatte im Licht von Art. 8 EMRK einen Regularisierungsanspruch anerkannt, wenngleich die Interessenabwägung dann zuungunsten der Beschwerdeführerin ausfiel.

(3) Mit dem hier kommentierten Urteil bekräftigt das Bundesgericht nun aber, dass grundsätzlich nur ein rechtmässiger Aufenthalt in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK fällt. Das Urteil steht in einer Reihe mit dem kurz zuvor ergangenen Urteil BGer 2C_528/2021 vom 23. Juni 2022, in dem klargestellt wurde, dass sich BGE 144 I 266 einzig auf die Verlängerung von Bewilligungen und nicht auf deren Neuerteilung bezieht (vgl. ausführliche Kritik von Christoph Raess, Die Neuerteilung von Aufenthaltsbewilligungen und das Recht auf Privatleben, in: Jusletter vom 12. Dezember 2022). Das Bundesgericht hat mit diesen beiden Urteilen dem verheissungsvollen BGE 144 I 266 die Flügel gestutzt. Ernüchternd sind die Urteile auch mit Blick auf BGE 147 I 268, in dem das Potential zu schlummern schien, in der ausländerrechtlichen Bewilligungspraxis künftig vermehrt die Tatsache und weniger die rechtliche Form des bisherigen Aufenthaltes zu gewichten.

(4) Die in und zwischen den Zeilen stehenden Befürchtungen des Bundesgerichtes, die Öffnung von Regularisierungsmöglichkeiten auf der Grundlage von Art. 8 EMRK würde an rechtskräftig abgewiesene Asylsuchende und andere Sans-Papiers falsche Signale senden, sie erst Recht zum jahrelangen rechtswidrigen Ausharren in der Schweiz verleiten und am Ende besser stellen als ausländische Personen, die sich pflichtgemäss verhalten (vgl. insbes. E. 2.1.4), sind m.E. unbegründet. Gesetzgeber und Justiz haben längst erkannt, dass in einem Rechtsstaat trotz dadurch möglicherweise geschaffenen unerwünschten "Anreizen" Regularisierungslösungen1 für Ausnahmefälle unabdingbar sind. Auch konventionsrechtliche Legalisierungen im Anspruchsbereich würden bei Anwendung einer Zehnjahresregel analog BGE 144 I 266 immer noch klaren Ausnahmecharakter haben. Gerade die vorliegend beurteilte Integrationsgeschichte stellt sich absolut aussergewöhnlich dar, gelang es doch dem im Alter von 17 Jahren in die Schweiz eingereisten Asylsuchenden nicht "nur" die Matura zu bestehen, sondern auch einen ETH-Studiengang erfolgreich abzuschliessen, was sich im Übrigen kaum anders als mit einer faktischen Duldung seiner Anwesenheit durch die Behörden erklären lässt.2

(5) Die Zulassung und Gutheissung dieser Beschwerde hätte daher keine Beschwerdeflut ans Bundesgericht nach sich gezogen. Zwar können mit der Anrufung von Art. 8 EMRK die Ausschlussgründe von Art. 83 lit. c BGG "umgangen" und das Bundesgericht zu einer Beschwerdebehandlung "gezwungen" werden, doch – sofern der Schutzbereich für rechtswidrig Anwesende in Anlehnung an BGE 144 I 266 gezogen würde – eben nur in Fällen einer ausserordentlich langen Anwesenheitsdauer von zehn Jahren oder einer absolut überdurchschnittlichen Integration, wie sie besonders bei schulpflichtigen Kindern und jungen Erwachsenen gegeben sein kann. Dieser Kategorie von Personen die Möglichkeit einer umfassenden rechtlichen Überprüfung ihres Falles durch höchste kantonale Gerichte und das Bundesgericht zu nehmen, ist und bleibt angesichts der existentiellen Bedeutung von migrationsrechtlichen Entscheiden stossend.

(6) Das Bundesgericht selbst scheint mit einem absoluten Ausschluss von Beschwerden im asylrechtlichen Härtefallbereich nicht zufrieden, wobei es zu seiner Entschuldigung auf den Gesetzgeber verweist, der zwecks Verhinderung von Vollzugsverzögerungen mit der Bestimmung in Art. 14 Abs. 4 AsylG den Betroffenen ganz bewusst keine Parteistellung und damit keine Rechtsmittelmöglichkeiten eingeräumt habe. Das sei zwar mit der Rechtsweggarantie von Art. 29a BV unvereinbar, doch gestützt auf Art. 190 BV zu akzeptieren (E. 2.3.1). Gefordert ist diesbezüglich der Gesetzgeber (vgl. dazu Thomas Hugi Yar, Trotz Privatleben keinen Anspruch auf Schutz?, in: dRSK, publiziert am 8. Dezember 2022, Ziff. 27).

(7) Auch das Bundesgericht selbst hält die Türe einen Spalt weit offen für weitere Versuche von Anwältinnen, Gesuche und Beschwerden für rechtswidrig anwesende Ausländerinnen direkt auf Art. 8 EMRK zu stützen: Es sei "nicht auszuschliessen, dass eine spezifische ausländerrechtliche Situation im Anwendungsbereich von Art. 14 AsylG – anders als hier – tatsächlich unter die Garantien von Art. 8 Ziff. 1 EMRK fallen und nach einer Interessenabwägung im Rahmen von dessen Ziff. 2 rufen könnte" (E. 2.3.2). Zu denken ist etwa an Eltern mit Kindern, da zumindest Letzteren nicht vorgeworfen werden kann, sie hätten sich die Härte der Wegweisung durch ihren widerrechtlichen Verbleib in der Schweiz selbst zuzuschreiben.

(8) Schliesslich ist festzuhalten, dass das Urteil selbstverständlich nichts daran ändert, dass definitiv abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers, wenn auch nicht im EMRK-8-Anspruchsbereich, so doch im Ermessensbereich gestützt auf die Härtefallbestimmungen des AsylG und des AIG, eine Aufenthaltsbewilligung erlangen können. Dabei ist – nebst den Integrationsleistungen und dem Wohl von allenfalls involvierten Kindern – auch und gerade die Aufenthaltsdauer massgeblich, weshalb die Zehnjahresfrist von BGE 144 I 266 nach wie vor als Orientierungspunkt gelten muss. Dass spätestens nach einem zehnjährigen Aufenthalt die hier geschaffenen sozialen Bindungen so eng sind, dass eine erzwungene Aufenthaltsbeendigung für den Betroffenen grundsätzlich eine besondere Härte bedeuten würde, ist nicht von dessen rechtlichem Status abhängig.

  • 1. Art. 14 Abs. 2 AsylG (asylrechtlicher Härtefall) und Art. 30 Abs. 1 lit. c AIG (ausländerrechtlicher Härtefall), vgl. auch Art. 31 VZAE und Art. 30a VZAE.
  • 2. Leider gibt der Sachverhalt keinen Aufschluss darüber, weshalb die Wegweisung des abgewiesenen Asylsuchenden nicht durchgeführt werden konnte; jedenfalls hat die Schweiz beträchtlich in die Ausbildung eines jungen Erwachsenen investiert, ohne in der Folge seine Arbeitskraft zu nutzen...
iusNet MigR 18.01.2023