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Rückstufung – was bisher geschah

Rückstufung – was bisher geschah

Fachbeitrag
Bewilligungswiderruf

Rückstufung – was bisher geschah

Ausgangslage

Per 1. Januar 2019 wurde die sog. Rückstufung, der Widerruf der Niederlassungsbewilligung und deren Ersatz durch eine (jährlich verlängerbare) Aufenthaltsbewilligung, eingeführt (Art. 63 Abs. 2 AIG). In Frage kommt diese migrationsrechtliche Massnahme, wenn bei der betroffenen Person Integrationsdefizite vorliegen, d.h. die Integrationskriterien von Art. 58a AIG nicht (mehr) erfüllt sind. Mit einer Rückstufung soll erreicht werden, dass sich die ausländische Person intensiver um ihre Integration bemüht; die Behörden können zu diesem Zweck zusammen mit der Rückstufung Bedingungen im Hinblick auf die künftige Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung verfügen. Es handelt sich bei der Rückstufung folglich – wie bei der Verwarnung – um eine präventive Massnahme, die auf eine Verhaltensänderung der betroffenen Person abzielt.

Es liegen mittlerweile eine Vielzahl kantonaler Entscheide und erste bundesgerichtliche (Leit-)Urteile vor, welche sich zum Anwendungsbereich und der Rechtsnatur der in der Lehre im Vorfeld kritisierten Rückstufung äussern. Einige Fragen sind jedoch auch heute noch ungeklärt. Nachfolgend werden im Sinne einer Übersicht der aktuelle Stand der Rechtsprechung und die noch offenen Fragen zusammengefasst.

Rechtsnatur

Geklärt hat das Bundesgericht im ersten Grundsatzentscheid,1 dass es sich bei der Rückstufung um einen einzigen, einheitlichen Akt (uno actu) handelt und nicht um einen Widerruf mit anschliessender Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung. Daraus folgt als wichtigste Konsequenz: Es besteht kein Raum für die auf Verordnungsstufe vorgesehene Zustimmung durch das Staatssekretariat für Migration (SEM). Wie bei den anderen Massnahmen (Verwarnung, Widerruf mit Wegweisung) entscheidet damit einzig die kantonale Migrationsbehörde über die Rückstufung, und es steht der Rechtsmittelweg über die kantonalen Instanzen bis ans Bundesgericht offen.

Voraussetzungen

Der Zweck der Rückstufung besteht wie erwähnt darin, die ausländische Person an ihre Verpflichtung zur Integration zu erinnern und zu erreichen, dass sie sich zukünftig besser integriert. Ob für die Massnahme – wie in der Literatur vertreten2 – ein Widerrufsgrund vorliegen muss, wurde vom Bundesgericht bis anhin, soweit ersichtlich, nicht explizit beantwortet. Der kantonalen Rechtsprechung lässt sich die Auffassung entnehmen, dass kein Widerrufsgrund gegeben sein muss. Das Bundesgericht wiederholt in seinen Entscheiden regelmässig, dass eine Rückstufung nur bei einem ernsthaften Integrationsdefizit in Frage kommt. Praxisrelevante Integrationsdefizite stellen in erster Linie der Bezug von Sozialhilfe bzw. eine mangelhafte Teilnahme am Wirtschaftsleben, strafrechtliche Verurteilungen oder die Anhäufung von Schulden dar.

Dass die Anordnung einer Rückstufung einzig wegen mangelnder Sprachkenntnisse vom Bundesgericht geschützt worden wäre, ist nicht ersichtlich – stets standen mehrere Integrationsdefizite zur Beurteilung, und die Frage der mangelhaften Sprachkenntnisse wurde im Rahmen der Verhältnismässigkeitsabwägung und damit einer Gesamtbetrachtung gewürdigt. Ob (einzig) mangelnde Sprachkenntnisse für eine Rückstufung genügen bzw. eine dadurch begründete Rückstufung jemals als verhältnismässig qualifiziert würde, erscheint zumindest fraglich.3

Anwendbares Recht und massgebender Sachverhalt

Da bei der Gesetzesänderung keine Übergangsbestimmungen festgelegt worden sind, ist das neue Recht und damit die Rückstufung nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Regeln anwendbar auf Verfahren, die nach Inkrafttreten der neuen Bestimmung erstinstanzlich eingeleitet wurden. Das Verfahren gilt dabei gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht schon mit Abklärungen seitens des Migrationsamtes als eingeleitet, sondern grundsätzlich erst, wenn das rechtliche Gehör zur Rückstufung gewährt wird.4

Ebenfalls im Grundsatzurteil BGE 148 II 1 hat das Bundesgericht klargestellt, dass die Rückstufung auch auf altrechtlich erteilte Niederlassungsbewilligungen angewendet werden kann. Grundsätzlich ist dabei auf den nach dem Inkrafttreten am 1. Januar 2019 entstandenen Sachverhalt abzustellen. Es können jedoch auch Sachverhaltselemente mitberücksichtigt werden, welche schon vor Einführung der Massnahme entstanden sind und fortdauern (sog. unechte Rückwirkung). Relevant ist dies insbesondere, wenn das Integrationsdefizit im Bezug von Sozialhilfe oder der Anhäufung von Schulden besteht, d.h. bei klassischen Dauersachverhalten.

Präzisiert wurde jedoch in der Folge, dass bei altrechtlich erteilten Niederlassungsbewilligungen in solchen Konstellationen ein «aktualisiertes, hinreichend gewichtiges Integrationsdefizit» vorliegen muss. Es darf mithin nicht einzig wegen eines im Massnahmezeitpunkt beendeten Sozialhilfebezugs oder wegen vor Inkrafttreten des Gesetzes angehäufter Schulden eine Rückstufung verfügt werden, ansonsten eine unzulässige Rückwirkung vorliegen würde. Bei einer Ablösung von der Sozialhilfe durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ist das Integrationskriterium von Art. 58a AIG in Verbindung mit Art. 77e Abs. 1 VZAE sodann stets erfüllt, weshalb kein Raum für eine Rückstufung besteht.5 Es gilt schliesslich auch bei der Rückstufung der Grundsatz, dass stets eine zukunftsgerichtete Betrachtungsweise einzunehmen ist und mit Blick auf den Zweck der Massnahme eine solche bei bereits erfolgter Verhaltensänderung in Form einer Beendigung des Sozialhilfebezugs oder einer längeren schuldenfreien Phase nicht in Frage kommt.

Interessenabwägung

In den Begründungen der unteren Instanzen finden sich zwar in der Regel rechtliche Ausführungen dazu, dass auch die Massnahme der Rückstufung verhältnismässig zu sein hat. Die eigentliche Abwägung beschränkt sich dann jedoch erfahrungsgemäss häufig auf wenige knappe, sich nicht mit der konkreten Situation auseinandersetzende Erwägungen sowie auf die allgemeine Einschätzung, wonach das private Interesse angesichts dessen, dass es sich nur um eine Rückstufung ohne Konsequenzen für das Aufenthaltsrecht an sich handelt, in jedem Fall gering sei. Das Bundesgericht und auch die kantonalen Verwaltungsgerichte sehen dies indes anders und scheinen gerade bei Personen, die schon lange mit einer Niederlassungsbewilligung in der Schweiz leben, die Verhältnismässigkeit der Rückstufung nur selten zu bejahen. Die Situation der Betroffenen verschlechtert sich durch die Rückstufung tatsächlich erheblich, die Massnahme mindert insbesondere deren Aufenthaltssicherheit.6 Im späteren Verlängerungsverfahren betreffend die anstelle der Niederlassungsbewilligung erteilte Aufenthaltsbewilligung hat die Behörde eine erneute umfassende Verhältnismässigkeitsprüfung vorzunehmen, und dies auch dann, wenn die Person die auferlegten Bedingungen nicht erfüllt. Dabei muss – anders als im Verfahren betreffend die Rückstufung – auch die Zumutbarkeit der Rückkehr ins Heimatland in die Abwägung einfliessen.

Verhältnis zu anderen migrationsrechtlichen Massnahmen

Das Bundesgericht wiederholt standardmässig, dass ein Widerruf mit Wegweisung aus der Schweiz der Rückstufung in dem Sinne vorgeht, als die Behörden eine Wegweisung zu verfügen haben, wenn diese im konkreten Fall verhältnismässig ist.7 Nur im gegenteiligen Fall kommt die Rückstufung als mildere Massnahme in Betracht.

Unklar und umstritten ist weiterhin, ob und in welche Stufenfolge die migrationsrechtlichen Massnahmen zu setzen sind und insbesondere, ob vor der Anordnung einer Rückstufung zwingend eine Verwarnung ausgesprochen werden muss.8 Gewisse Urteile des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich9 sowie des Bundesgerichts10 lassen darauf schliessen, dass der Rückstufung grundsätzlich eine klare Verwarnung vorauszugehen hat. In (wenigen) anderen Entscheiden, liess das Bundesgericht aber eine Ermahnung genügen und bestätigte die Rückstufung ohne vorgängige formelle Verwarnung.11 Das Zürcher Verwaltungsgericht äussert seinerseits Zweifel, ob die Verwarnung im Hinblick auf einen Widerruf mit Wegweisung eine mildere Massnahme im Vergleich zur Rückstufung darstellt.12

Auch wenn zu dieser Frage der Stufenfolge widersprüchliche Meinungen und Urteile vorliegen, so ergibt sich aus der Praxis insgesamt, dass eine Rückstufung im Ergebnis häufig als unverhältnismässig erachtet wird, wenn nicht vorgängig eine eindeutige, formelle Verwarnung ausgesprochen worden ist. Gerade bei Personen mit altrechtlich erteilten Niederlassungsbewilligungen und solchen, die sich schon lange in der Schweiz aufhalten, ist es in der Regel notwendig, dass diesen eine Statusverschlechterung zunächst angedroht und eine Chance eingeräumt wird, die behördlich bemängelten Integrationsdefizite zu verbessern. Solche Verwarnungen müssen erneuert werden: Die Behörden können vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung ausgesprochene Verwarnungen im Hinblick auf einen Widerruf mit Wegweisung nicht ohne Weiteres heranziehen und zuungunsten der betroffenen Person berücksichtigen.13 Sog. Hinweisschreiben ersetzen formelle Verwarnungen nicht.

Verhältnis zum Landesverweis

Bekanntlich hat mit Einführung des strafrechtlichen Landesverweises eine Verschiebung der Zuständigkeiten im Bereich der Sanktionierung von straffälligen Ausländerinnen weg von den kantonalen Migrationsbehörden hin zu den Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichten stattgefunden. Wird eine Person strafrechtlich verurteilt und dabei explizit auf einen Landesverweis verzichtet, so kann die Migrationsbehörde das Fehlverhalten, das dieser Verurteilung zugrunde liegt, nicht heranziehen, um die Bewilligung dieser Person zu widerrufen (sog. Dualismusverbot). Anders soll es sich gemäss einem ersten obiter dictum des Bundesgerichts bei der Rückstufung verhalten: Da die Rückstufung keine Wegweisung nach sich zieht, darf die Deliktsbegehung dennoch als Integrationsdefizit gewertet werden und damit Grundlage für eine Rückstufung bilden. Es bleibt abzuwarten, ob das Bundesgericht diese angekündigte und in der Literatur kritisierte14 Haltung in künftigen Entscheiden bestätigen wird.15

In Frage kommt eine Rückstufung trotz Verzichts auf einen Landesverweis in jedem Fall wohl in erster Linie, wenn neben der Straffälligkeit noch weitere Integrationsdefizite vorliegen, sodass bei einer Gesamtbetrachtung die Rückstufung verhältnismässig erscheint. Damit würde in der Praxis dennoch eine Rückverschiebung der Kompetenzen hin zu den Migrationsbehörden stattfinden. Wird die betroffene Person nach einer erfolgten Rückstufung erneut straffällig, ggf. auch nur in geringfügigem Ausmass, so könnte die Migrationsbehörde ihrerseits tätig werden und nach einer weiteren umfassenden Interessenabwägung eine Wegweisung verfügen. Dabei werden die Verwaltungsbehörden angesichts der hier ans Tageslicht tretenden Doppelspurigkeit m.E. klar aufzeigen müssen, dass und inwieweit der Schluss der Strafbehörden in Bezug auf die Interessenabwägung im Rahmen der – in der Praxis äusserst restriktiv gehandhabten – Härtefallklausel aufgrund der neuen Verurteilung nicht mehr korrekt ist.

Fazit

Auch wenn einige der wichtigsten Fragen im Zusammenhang mit der Rückstufung mittlerweile höchstrichterlich geklärt sind, bestehen doch noch Unsicherheiten und damit auch Argumentationsspielräume für Rechtsanwältinnen. Beim aktuellen Stand zeigt die Erfahrung, dass gerade bei Niedergelassenen, die schon lange in der Schweiz leben und im Besitz einer (altrechtlichen) C-Bewilligung sind, die Anfechtung der Rückstufung häufig – wenn auch mit unterschiedlichen richterlichen Begründungen – erfolgreich ist. Oft versäumen es die kantonalen Migrationsämter, eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen und dabei auch zu prüfen, ob im konkreten Fall angesichts des regelmässig unterschätzten privaten Interesses an der Aufrechterhaltung der Niederlassung nicht zunächst eine Verwarnung hätte ausgesprochen werden müssen.

  • 1. BGE 148 II 1.
  • 2. OFK-Migrationsrecht/Marc Spescha Art. 63 AIG N 23.
  • 3. Nicht zuletzt mit Blick auf BGer 2C_1030/2020 vom 8. Dezember 2021, in welchem es um die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung ging, wobei sich die Beschwerdeführerin weigerte, ein Sprachzertifikat einzureichen.
  • 4. BGer 2C_222/2021 vom 12. April 2022, E. 2.2.
  • 5. vgl. VGer ZH VB.2020.00883 vom 24. Februar 2021 E. 5.4.
  • 6. vgl. dazu Babak Fargahi, Aufenthalt auf Basis des Rechts auf Privatleben, in: dRSK, publiziert am 7. Dezember 2018.
  • 7. BGE 148 II 1 E. 2.5.
  • 8. vgl. dazu Catherine Reiter, Die Rückstufung im Migrationsrecht, in: AJP/PJA 7/2022 S. 777 ff.
  • 9. vgl. dazu z.B.: VGer ZH VB.2020.00343 vom 3. Dezember 2020 E. 2.2; VGer ZH VB.2020.00341 vom 3. Dezember 2020 E. 2.2.
  • 10. BGer 2C_48/2021 vom 16. Februar 2022, auch schon 2C_367/2020 vom 19. Oktober 2021 E. 6.4.
  • 11. BGer 2C_96/2021 vom 19. Oktober 2021 E. 6.3.
  • 12. vgl. ausführlich dazu VGer ZH VB.2020.00634 vom 11. November 2020, das Urteil wurde jedoch vom Bundesgericht aufgehoben (2C_48/2021 vom 16. Februar 2022).
  • 13. vgl. BGer 2C_48/2021 E 6.2.
  • 14. vgl. dazu Kilian Meyer, Rückstufung der Niederlassungs- in eine Aufenthaltsbewilligung, in: dRSK, publiziert am 17. Februar 2022 Rz. 15.
  • 15. Implizit bestätigt in BGer 2C_723/2022 vom 30. November 2022, jedoch ohne dass sich das Bundesgericht mit dem Dualismusverbot oder der angeführten Kritik auseinandersetzt.
iusNet MigR 18.01.2023