Schulthess Logo

Migrationsrecht > Rechtsprechung > Bund > Migrationsstrafrecht Landesverweis > Rückführungsrichtlinie schliesst Freiheitsstrafe auch bei gleichzeitig hängigem Verfahren betr. Erteilung eines Aufenthaltstitels aus

Rückführungsrichtlinie schliesst Freiheitsstrafe auch bei gleichzeitig hängigem Verfahren betr. Erteilung eines Aufenthaltstitels aus

Rückführungsrichtlinie schliesst Freiheitsstrafe auch bei gleichzeitig hängigem Verfahren betr. Erteilung eines Aufenthaltstitels aus

Rechtsprechung
Migrationsstrafrecht / Landesverweis

Rückführungsrichtlinie schliesst Freiheitsstrafe auch bei gleichzeitig hängigem Verfahren betr. Erteilung eines Aufenthaltstitels aus

BGer 6B_908/2021, Urteil vom 29. November 2022

Die Staatsanwaltschaft Winterthur verurteilte den Beschwerdeführer am 12. Mai 2018 wegen mehrfacher rechtswidriger Einreise und mehrfachem rechtswidrigen Aufenthalt strafbefehlsweise zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von fünf Monaten. Gleichentags «genehmigte» sie den vorzeitigen Strafvollzug gegen den zunächst nicht anwaltlich verteidigten Beschwerdeführer,  der – offenbar auch nach Einspracheerhebung – erst nach rund vier Monaten am 10. September 2018 aus dem vorzeitigen Strafvollzug entlassen wurde. Das Obergericht des Kantons Zürich sprach den Beschwerdeführer schuldig und verhängte eine unbedingte Freiheitsstrafe von fünf Monaten. Dieses Urteil hob das Bundesgericht mit Verweis auf die Rückführungsrichtline (RL 2008/115/EU) und die entsprechende bundesgerichtliche Rechtsprechung auf, wonach auf die Verhängung und den Vollzug einer Freiheitsstrafe zu verzichten ist, wenn ein Wegweisungsentscheid erging und die erforderlichen Entfernungsmassnahmen noch nicht ergriffen worden sind (vgl. BGE 143 IV 249, E. 1.9). Es wies die Angelegenheit an die Vorinstanz zurück zur Klärung der Frage, ob gegen den Beschwerdeführer im Zeitpunkt der (vorzeitigen) Vollstreckung der Freiheitsstrafe ein Rückführungsverfahren eingeleitet worden war und welche Vollzugsbemühungen die Migrationsbehörden ergriffen hätten (BGer 6B_701/2019, Urteil v. 17.12.2020). 

Mit Entscheid vom 12. Mai 2021 verurteilte das Obergericht des Kantons Zürich den Beschwerdeverführer erneut, wobei es die Freiheitsstrafe auf vier Monate, mithin die Dauer der erstandenen Haft, senkte. Es erwog, dass die Rückführungsrichtlinie einer Ausfällung einer Freiheitsstrafe nicht entgegenstehe, da der Beschwerdeführer nach seiner Verhaftung bzw. während vorzeitigem Strafvollzug am 11. Juli 2018 ein Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung gestellt habe, das erst am 19. Januar 2021 letztinstanzlich abgewiesen worden sei (vgl. BGer 2C_421/2022). Das Migrationsamt sei damit beschäftigt gewesen, das Gesuch zu prüfen, und habe daher folgerichtig keine Ausschaffungshaft beantragt. Das migrationsrechtliche Verfahren sei bei Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug am 10. September 2018 noch im Gange gewesen. Vor diesem Hintergrund sei das Wegweisungsverfahren durch das Strafverfahren in keiner Weise behindert oder verzögert worden (E. 3.1., siehe auch Urteil des Obergerichts Zürich vom 12. Mai 2021, SB210001, E. 5.4.). 

Das Bundesgericht hebt auch diesen Entscheid auf und weist die Angelegenheit erneut an das Obergericht des Kantons Zürich zurück, wobei es dieses nunmehr anweist, das Strafverfahren einzustellen und die Kosten- und Entschädigungsfolgen neu zu beurteilen. Es betont, die Rückführungsrichtlinie statuiere das Prinzip der Priorität der verwaltungsrechtlichen Rückführung vor einer strafrechtlichen Sanktionierung (E. 5.2. mit Verweis auf BGE 147 IV 232, E. 1.2). Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, die unmittelbar ein Strafverfahren eröffnet und am 12. Mai 2018 eine fünfmonatige Freiheitsstrafe ausgefällt und diese sogleich vorzeitig vollzogen habe, verletze diesen Grundsatz, da im Vorfeld weder Zwangsmassnahmen angeordnet worden seien, noch die Ausschaffung gescheitert sei. Die Argumentation der Vorinstanz, wonach die vorzeitig vollzogene Freiheitsstrafe aufgrund des Gesuchs um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung das Wegweisungsverfahren nicht behindert habe, lässt das Bundesgericht nicht gelten: Es sei mit der Prioriätsordnung der Rückführungsrichtlinie nicht vereinbar, «gleichsam im Schatten des Wegweisungsverfahrens ein Strafverfahren durchzuführen»; die Durchführung eines Strafverfahrens lasse sich nicht dadurch begründen oder rechtfertigen, dass gleichzeitig noch verwaltungsrechtliche Verfahren pendent seien (E. 6.3.). Das Bundesgericht merkt sodann an, dass auch die Ausfällung einer Geldstrafe wegen der von der Vorinstanz festgestellten Mittellosigkeit ausser Betracht fällt (E. 6.5.).

iusNet MigR 18.01.2023